Psychologie und Sportmedizin

DIGTAL DETOX - Sozialer leben ohne soziale Medien im „Offtober“

 

Linda Meixner hat 122.000 Follower auf Instagram, doch die sehen derzeit nichts von ihr. Sie hat all ihre sozialen Medien für den ganzen Oktober abgedreht – genauso wie 150 Teilnehmer ihres aktuellen Projektes „Offtober“.

Das Smartphone in der Hosentasche vibriert, man spürt es ganz deutlich und holt es heraus. Fehlalarm, keine neue Nachricht, kein Anruf, nichts. Das Vibrieren war eine Einbildung. Forscher gehen davon aus, dass der Großteil der Smartphone-Benutzer am „Phantom-Vibrations-Syndrom“ leidet. Über die Ursache wird noch gerätselt, eine These ist beängstigend: Das Smartphone ist schon so sehr zu einem Teil unseres Lebens geworden, dass unser Geist es als eigenen Körperteil betrachtet. Und wenn von dem ungewöhnlich lange keine Signale kommen, muss man nachsehen, ob alles in Ordnung ist.

Der Körper schlägt Alarm

Linda Meixner schaute vor vier Jahren oft auf ihr Smartphone, in Ordnung war nichts mehr. Ihr Instagram-Account wurde schleichend zu ihrem Job, stundenlang bearbeitete sie Bilder und Texte, „ich konnte nicht mehr unterscheiden, wo ist mein Privatleben und was ist Beruf“. 60 Stunden in der Woche, das sind im Schnitt 8,5 Stunden jeden Tag, saß sie vor einem ihrer Bildschirme. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich als Mensch verändert habe. Ich war jemand, der gerne unter Menschen war und viel lachte. Ich wollte mich dann aber kaum noch mit anderen treffen.“ Ein negativer Höhepunkt war, als ihr eine Lähmung des rechten Schulterblattes diagnostiziert wurde. „Da habe ich mich gefragt, ob das psychosomatisch ist: Was liegt so schwer in meiner rechten Hand?“ Es war nicht nur das Smartphone, sondern was sich darin abspielte. Sie spürte, was mit einem passiert, wenn man von außen nicht nur bewertet wird, sondern die eigene Person bzw. die Darstellung davon in den sozialen Medien durch Likes messbar und durch Kooperationen mit Unternehmen zum Kapital wird. 

Sie machte einen klaren Schnitt und ging 66 Tage offline, lebte ohne Smartphone. Aus dem Selbstversuch ist inzwischen ihr Start-up mit dem Namen „Offline Institute“ entstanden – ein Projekt läuft gerade: der „Offtober“. Es geht aber nicht darum, das Smartphone komplett aus dem Leben zu verbannen. „Ich bin absolut kein Technikfeind. In vielen Bereichen, beim Musikhören zum Beispiel, kann man das Smartphone fantastisch nutzen. Aber wir alle haben nicht gelernt, damit umzugehen, was es mit uns macht. Es geht darum, eine digitale Balance zu finden“, sagt Meixner. Und weil vor allem soziale Medien in vielen Fällen dazu beitragen, das soziale Leben zu zerstören, setzt Meixner dort an. 150 Teilnehmer am „Offtober“ – und sie auch – verzichten den ganzen Oktober auf die Nutzung von Instagram, Facebook, Snapchat, TikTok, Youtube und LinkedIn. 

Wissenschaft und Digital Detox

50 Teilnehmer des Projekts werden außerdem wissenschaftlich durch das Institut für Sport-, Alpinmedizin und Gesundheitstourismus der UMIT begleitet. Die stv. Institutsleiterin Cornelia Blank hofft, von den Teilnehmern Daten und Erkenntnisse über den Entzug zu gewinnen. Unter anderem wird mit einem kleinen Kästchen die Herzratenvariabilität (HRV) gemessen, durch die man u. a. Aussagen zum Stresszustand treffen kann. Eine Messung dauert 72 Stunden. Die erste wurde vor Beginn des Projekts durchgeführt, in diesen Tagen folgt die zweite, weitere werden Ende Oktober durchgeführt. 

„Außerdem wurden die Teilnehmer in Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe muss zusätzlich jede Woche das Smartphone aus einem Raum verbannen, z. B. aus dem Schlafzimmer. Einer anderen Gruppe geben wir Aktivitäten vor, z. B. dass die Teilnehmer ohne Smartphone in die Natur gehen oder etwas Kreatives mit den Händen schaffen sollen“, so Blank. 

Aus eigener Erfahrung weiß Meixner, wie ein Entzug abläuft. Der „Offtober“ sei die softe Variante 31 Tage lang ohne soziale Medien, sie habe damals 66 Tage ganz ohne Smartphone gelebt. „In der Entzugsphase am Anfang gab es schon oft Momente, in denen ich das Gerät gesucht, es vermisst habe. Und es gab die Angst, dass ich nichts mehr mitbekomme. Tatsächlich ist man sozial isolierter. Aber nach 30 Tagen war mir das Telefon total egal. Ich hatte gar nicht mehr das Bedürfnis, mich damit zu beschäftigen“, erzählt sie. Dafür hatte sie wieder mehr Zeit für sich selbst: „Ich habe mich gefragt, was eigentlich meine Bedürfnisse sind, meine Hobbys, was ich gut kann, was ich gerne mache. Ich hatte ja durch die ganze Zeit am Bildschirm und die Ablenkung keine Zeit mehr, über solche Dinge nachzudenken.“

Diese Erfahrung will sie durch das „Offline Institute“ weitergeben. Die Ergebnisse aus dem „Offtober“ werden direkt in das nächste Projekt einfließen: das „Offline-Dorf“. Der Ort und die grobe Zeit dafür stehen fest, Anfang der Sommersaison 2023 soll im Bergdorf Gargellen im Montafon ein Offline-Urlaub angeboten werden. „Eine Woche lang ohne Smartphone in den Bergen verbringen, und das wissenschaftlich begleitet, so etwas hat es, glaube ich, noch nicht gegeben“, erklärt Meixner. Blank stimmt ihr zu: „Wir beschäftigen uns am Institut schon lange damit, wie wir den Tourismus nutzen können, um Lifestyle-Änderungen herbeizuführen, die auch nachhaltig sind. Aber das Thema Digital Detox im Tourismus hatten wir als Forschungsschwerpunkt noch nicht“, ist auch sie gespannt auf das Offline-Dorf und „inwiefern das für den Tourismus eine Initialzündung sein kann“. 

Jetzt geht es für Meixner darum, andere zu begeistern, online und offline. „Ich befinde mich tatsächlich immer wieder selber in dem Prozess, wie ich damit umgehe.“ Als Unternehmerin könne sie ihre Reichweite mit 122.000 Followern auf Instagram nutzen und viel Online-Marketing machen. „Aber ich merke gerade ganz stark, wie viel ich bewirke, wenn ich Menschen persönlich treffe, ihnen in die Augen schaue und von meinen Ideen erzähle.“ Von einem Leben in digitaler Balance.

 

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