17 UMIT TIROL [campus] Therapie? Welche Nebenwirkungen treten auf? Welche Effekte zeigen sich langfristig auf Lebenserwartung, Lebensqualität und Folgekosten? Wir lassen dann fiktive Personen mit allen Eventualitäten und Wahrscheinlichkeiten durch das Computermodell laufen und berechnen dann einmal mit und einmal ohne Therapie, wie viele Lebensjahre gekoppelt mit Lebensqualität ohne und mit Therapie zu erwarten sind. Dann kommt der spannendste und anspruchsvollste Schritt: Wir stellen das Verhältnis von Nutzen, Schaden und Kosten dar und leiten Handlungsempfehlungen ab. Diese fließen dann in klinische Leitlinien oder Erstattungsentscheidungen der Versicherungen ein. Kann man diese Fragen nicht in klinischen Studien beantworten? SIEBERT: Das ist der springende Punkt. Klinische Studien liefern wichtige Erkenntnisse – aber sie haben naturgemäß einen begrenzten Zeithorizont. Bei chronischen Krankheiten wie Hepatitis C kann der relevante Zeitraum Jahrzehnte betragen. Eine Studie, die so lange läuft, bis alle Teilnehmenden verstorben sind, ist weder praktisch noch ethisch realisierbar. Hier kommen Modelle ins Spiel. Sie verbinden unterschiedliche Daten zu einem Gesamtbild – wie eine Kette mathematischer Gleichungen. Für Hepatitis C kennen wir aus klinischen Kurzzeitstudien die Ansprechraten, also wie viele Patient*innen nach der mehrwöchigen Behandlung virusfrei sind. Und aus früheren jahrzehntelangen Registerstudien kennen wir die langfristige Krankheitsentwicklung. In unserem Modell verknüpfen wir diese Informationen: Wer erfolgreich behandelt wird, erhält die Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung; wer nicht anspricht, erlebt das aus den Registerdaten bekannte Schicksal. So entsteht ein realistisches Bild über den gesamten Krankheitsverlauf – evidenzbasiert, nachvollziehbar und deutlich schneller, als es jede empirische Studie je leisten könnte. Werden diese entscheidungsanalytischen Modellierungen auch im Bereich der Prävention eingesetzt? SIEBERT: Ja, da es oft um sehr lange Zeiträume geht. Ein gutes Beispiel sind Krebsvorsorge-Modelle, etwa zum Dickdarmkrebs. Wir verfügen über valide Querschnittstudien zur Genauigkeit und Fehlerrate von Screeningtests – wie Stuhluntersuchung oder Koloskopie – zur Erkennung von Polypen oder frühen Krebsstadien. Aus Langzeit-Krebsregistern wissen wir, wie sich verschiedene Stadien prognostisch auswirken. Unser Computermodell zeigt dann zweierlei: Der Nutzen liegt darin, Vorstufen oder Frühstadien rechtzeitig zu erkennen – was die Heilungschancen deutlich erhöht. Doch wir sehen auch medizinische Schäden durch falsch-positive Testbefunde, die zu unnötigen Eingriffen führen, oder psychologische Belastungen durch sogenannte Überdiagnosen – das sind Tumore, die nie Beschwerden verursacht hätten. Unsere Modelle helfen, Screeningstrategien mit einem akzeptablen Nutzen-Schaden-Verhältnis zu finden – auf individueller wie auf systemischer Ebene. Verfügt Ihre Arbeitsgruppe über ein Alleinstellungsmerkmal? SIEBERT: Unser Department hat ein besonderes Profil. Es zählt zu den größten Public-Health-Departments Europas. Entscheidend ist jedoch nicht die Größe, sondern die Kombination aus breiter interdisziplinärer Kompetenz, Spezialwissen in modernen Methoden der evidenzbasierten Gesundheitswissenschaften wie HTA, Modellierung, Health Data Science und Decision Science mit Fokus auf Kausalitätsforschung – ergänzt durch unsere erfolgreiche weltweite Vernetzung. All das fließt auch ein in unsere Ausbildung mit modernen Lehrmethoden, kleinen Gruppen und persönlicher Betreuung. Ein besonderes Highlight dieses Jahr: Die nächsten Präsident*innen gleich zweier weltweit führender Fachgesellschaften – SMDM und ISPOR – stammen beide aus unserem Institut. Ein Novum in der Geschichte beider Gesellschaften. Fließt das Know-how des Instituts auch in das österreichische Gesundheitswesen ein? SIEBERT: Ja, an vielen Stellen und dauerhaft – und wir profitieren zugleich vom engen Austausch mit zentralen Akteuren wie dem Land Tirol, der Gesundheit Österreich GmbH, dem Bundesministerium für Gesundheit oder dem Umweltbundesamt. Wir sind in deren Beiräten und Aktivitäten vertreten und pflegen ein aktives Netzwerk. Ein aktuelles Beispiel sind die Empfehlungen des Nationalen Screening-Komitees für Krebserkrankungen zur Darmkrebsvorsorge, welche auf den Modellierungen unseres Instituts basieren. Auch regional unterstützen wir, etwa mit Analysen zur Patient*innensicherheit für die tirol kliniken. Profitieren auch die Studierenden von den vielen Forschungskooperationen? SIEBERT: Unsere Studierenden profitieren davon in mehrfacher Hinsicht. Zum einen holen wir Lehrende aus der ganzen Welt an die UMIT TIROL und können so einen außergewöhnlich vielfältigen Pool an Wahlfächern anbieten. Zum anderen bekommen unsere Studierenden die Chance, bereits während des Studiums in hochkarätige Forschungsprojekte eingebunden zu werden – sei es für Praktika, Abschlussarbeiten oder Dissertationen. Das ist nicht nur fachlich enorm bereichernd, sondern auch ein echtes Sprungbrett für Berufseinstieg und Karriere. Uwe Siebert, geboren 1960, studierte Medizin, Public Health, Epidemiologie und Health Policy & Management mit einem Schwerpunkt Health Decision Science. 2005 wurde er von der Harvard University an die UMIT TIROL berufen. Seither lei- tet Siebert das Department für Public Health, Versorgungsforschung und Health Technology Assessment. „ PUBLIC HEALTH, VERSORGUNGSFORSCHUNG & HTA
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